Andreas Kampa



Chaussee der Enthusiasten


Zeitrechnung

Dieses Jahr hatten wir wieder einen Tag mehr. Da der 29. Februar aber auf einen Mittwoch gefallen ist, hatten die meisten Menschen gar nichts davon, weil sie arbeiten mussten. Wieder einmal profitierte nur die Volkswirtschaft von dem zusätzlichen Zeitgewinn.

Bei der Sommerzeitumstellung ist das ja anders. Die zusätzliche Stunde, die man im Herbst geschenkt bekommt, fällt immer in die arbeitsfreie Zeit. Allerdings muss man die gewonnene Stunde im Frühjahr wieder abgeben, so dass es in der Lebensbilanz nichts bringt. Außer man stirbt im Winter, dann hat man unterm Strich eine Stunde gewonnen. Allerdings nur, wenn man im Sommer geboren ist. Für Wintergeborene beginnt die erste Zeitumstellung mit einem Minus, welches sich zwar ein halbes Jahr später wieder ausgleicht, aber eben nur ausgleicht. Sie kommen nie ins Plus, im Gegensatz zu den Sommergeborenen, die ja schon mit einem Plus beginnen.

Wie ist das nun aber mit dem 29. Februar? Alle vier Jahre kommt ein Tag hinzu, der nie wieder abgezogen wird. Wer zum Beispiel genau an seinem 80. Geburtstag stirbt, ist in Wirklichkeit um die 20 Schalttage älter, die sich im Laufe seines Lebens angesammelt haben. Ganz offensichtlich leben wir nämlich in Schaltjahren einen Tag länger, und es ist richtig schade, dass man nicht mehr Tage einfügt. Noch schader ist, dass der 29. Februar kein Feiertag ist. Dann hätte man wenigstens was davon. Aber die Politik gönnt uns diesen Tag nicht. Wir sollen lieber arbeiten und Werte schaffen, was die Frage aufwirft, wer eigentlich von den Schaltjahren profitiert. So weit ich weiß, bekommt der Arbeiter in Schaltjahren nicht mehr Geld. Der Gewinn fließt also direkt in die Kassen der Kapitalisten. Wie ist das aber mit den Banken? In Schaltjahren ist der Zins genauso hoch wie in anderen Jahren, obwohl das Jahr einen Tag länger dauert. Der Kleinsparer bekommt also effektiv weniger Geld pro Tag. Und muss dafür auch noch einen Tag länger arbeiten. Unterm Strich verdient also wieder der Kapitalist.
Das ist ungerecht; und solange die Politik den 29. Februar nicht zum Feiertag erklärt, kann man das System nur für sich spielen lassen. Wer also Geld übrig hat, sollte in Schaltjahren seine festverzinslichen Papiere verkaufen und in Aktien investieren. Umgekehrt sollten Menschen, die einen Kredit aufnehmen wollen, das vorzugsweise in Schaltjahren tun.

Die Zeit hält aber noch andere Tücken bereit, die beachtet werden wollen. Bekanntlich ist die Erde in Zeitzonen eingeteilt. Wer westwärts eine Zeitzone überschreitet, gewinnt eine Stunde hinzu. Für die meisten von uns, die in derselben Zeitzone sterben, in der sie geboren sind, ist das egal, weil man westwärts so viel Zeit gewinnt, wie man ostwärts wieder verliert. Anders ist das bei Auswanderern. Wer auswandert, sollte das immer westwärts tun. Er gewinnt dadurch Lebenszeit – wenn auch nur ein paar Stunden. Vorsicht aber an der Datumsgrenze! Dort ist es genau umgekehrt: von West nach Ost gewinnt man einen ganzen Tag, in der Gegenrichtung verliert man ihn.

Zum Schluss sei noch das Problem des Religionswechsels angesprochen. Da der muslimische Kalender ein Mondkalender ist und demzufolge weniger Tage enthält als unser Sonnenjahr, empfiehlt sich ein Übertritt zum Islam nur für diejenigen, die möglichst schnell ins Paradies gelangen wollen. Wer Lebenszeit auf der Erde gewinnen will, kann nichts Besseres tun, als sich vom Islam zum Christentum zu bekehren. Das bringt stolze 11 Tage pro Jahr Zeitgewinn, Schaltjahre noch gar nicht mitgerechnet. Auf diese Weise lässt sich in 33 Jahren immerhin ein komplettes Jahr Zeit hinzu schinden, ohne etwas Besonderes dafür tun zu müssen. Man kann die Muslime um diese großartige Möglichkeit, ihr Leben zu verlängern, nur beneiden. Eine Möglichkeit, die uns im Westen Geborenen leider für immer verschlossen bleiben wird. Aber ein paar Schalttage sind ja auch nicht schlecht. Und wer im Sommer geboren ist und im Winter in einem Schaltjahr stirbt – nach dem 29. Februar, aber vor dem Beginn der Sommerzeit – und außerdem westwärts ausgewandert ist, der hat der Zeit auf dieser Welt immerhin noch ein paar zusätzliche Lebensstunden abgetrotzt, vorausgesetzt er ist nie zum Islam übergetreten.