Andreas Kampa



Chaussee der Enthusiasten


Bin ich einfach nur nicht paranoid, oder ist tatsächlich niemand hinter mir her?


Manchmal kommt es mir so vor, als wäre niemand hinter mir her. Ja, ich könnte schwören, dass kein Mensch sich die Mühe machte, mich ernsthaft zu verfolgen. Ich weiß, das klingt verrückt, und das ist es vermutlich auch. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass ich jemandem so wichtig bin, dass er mir sogar Übles will. Wenn ich zum Beispiel die Straße betrete, denke ich, dass die Leute, die dort lang laufen, auch ohne mich dort lang laufen würden. Selbst wenn jemand ganz offensichtlich hinter mir hergeht, rede ich mir gegen jeden Anschein ein, dass wir nur rein zufällig den selben Weg haben. Mein Nichtverfolgungswahn hat meinen Verstand voll im Griff. Er sucht sich immer die Erklärung aus, die er am meisten fürchtet. Und ich fürchte nun mal, nicht verfolgt zu werden. Davor habe ich eine Heidenangst.

Natürlich ist mir auch schon aufgefallen, dass ständig wildfremde Leute unter irgendeinem Vorwand bei mir anrufen, um meine Anwesenheit zu kontrollieren. Und obwohl sie mir völlig sinnlose Fragen stellen, denke ich: Warum sollte das nicht stimmen? Vielleicht haben sie sich tatsächlich die Mühe gemacht, ganz viele Telefonnummern zu sammeln, nur um ein bisschen Marktforschung zu betreiben. Das kann doch sein! Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber es ist doch auch nicht ausgeschlossen.

Ich denke mir auch nichts dabei, wenn in öffentlichen Verkehrsmitteln mir wildfremde Menschen ihre Handyszücken, um meine Position durchzugeben. Ich denke dann einfach, es ist ja auch ihre Position. Sie kennen vielleicht jemanden, den das interessiert, wo sie sich gerade aufhalten. Mit mir hat das alles gar nichts zu tun. Ist das naiv? Vielleicht. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die ganze Welt nur meinetwegen existiert. Auch wenn alles dagegen spricht. Mein Wahn hat mich fest im Griff. Solange er eine logische Möglichkeit findet, dass alles auch ohne mich so wäre, wie es ist, wird er sie ergreifen. Ich sage mir dann einfach, die Welt hat schon vor meiner Geburt ohne mich existiert und nach meinem Tod wird sie es weiter tun. Warum also sollte sie nicht auch jetzt, während ich lebe, ohne mich auskommen?

Natürlich gibt es auch in meinem Leben helle Momente, in denen ich glaube, die ganze Welt hätte sich gegen mich verschworen. Doch meistens dauern diese Momente nicht lange, und ich verfalle wieder in den Wahn, dass ich der Welt im Grunde egal bin und niemand mich verfolgt, noch mir irgendetwas Böses will. Wenn mich zum Beispiel Menschen beleidigen, denke ich, sie meinen gar nicht mich, sie haben einfach nur schlechte Laune. Stünde ihnen gerade jemand anders gegenüber, würden sie eben den beleidigen. Mit mir hat das nichts zu tun. Es ist krank, ich weiß, aber ich kann nichts dagegen machen. Ich wünschte, ich wäre so normal, wie alle andern Menschen, die sich ohne Probleme vorstellen können, verfolgt zu werden. Die sich im Internet sogar Blogs und Twitter-Accounts einrichten, um ihre Follower ständig auf dem Laufenden zu halten. Ich könnte das nicht. Die Angst ist einfach zu groß, dass sich kein Follower findet, der mich freiwillig verfolgt. Der sich bei Facebook in meine Feindesliste als Freund einträgt und jedem meiner Kommentare ein „Gefällt mir nicht“ gibt.

Ich ziehe auch keine Schlüsse daraus, dass in letzter Zeit so viele Menschen ihre Telefone auf mich richten, obwohl ich genau weiß, dass sie alle eine Kamera hinten drin haben. Warum sollten sie mich filmen?, denke ich dann. Wahrscheinlich lesen sie nur irgendeine SMS oder benutzen eine interessante App. Das kann doch sein. Wer will das ausschließen?

Manchmal traue ich mich gar nicht aus dem Haus, weil ich mir so ignoriert vorkomme. Es hilft auch nichts, wenn ich mich gelegentlich auf eine Bühne stelle. Ich denke dann immer, die Leute schauen nur deshalb in meine Richtung, weil ihre Stühle so ungünstig stehen. Warum sollte mich jemand dabei beobachten wollen, wie ich mir etwas durchlese? Das kommt mir unlogisch vor. Die Leute haben doch bestimmt genug eigene Probleme. Was interessieren sie die Ansichten eines kranken Menschen, der unter Nichtverfolgungswahn leidet?

Ja, ich muss zugeben: Ich habe mich in meinem Wahn gut eingerichtet. So nehme ich es auch nicht persönlich, wenn mir Unbekannte per Email Penisverlängerungen vorschlagen. Ich denke dann immer: Die kriegen bestimmt alle. Das hat nichts mit mir zu tun. Wenn jemand auf der Straße meinen Namen ruft, drehe ich mich ja auch nicht um, sondern denke: Der meint bestimmt einen anderen Andreas. Es hat sicher auch nichts zu bedeuten, dass mir im Internet auf Seiten, die ich noch nie zuvor besucht habe, Produkte angeboten werde, die ich mir gerade erst irgendwo anders angeschaut habe. Wahrscheinlich stecken nur irgendwelche ausgeklügelten Programme dahinter, denke ich dann. Es gibt eben für alles ein ganz harmlose Erklärung, auch wenn es schon merkwürdig ist, dass jemand – wie google-Maps zu beweisen scheint – ständig mein Haus von oben fotografiert. Und offenbar auch von der Straße aus. Doch ich bin nie auf einem der Bilder zu sehen. Nirgends. Es ist, als würde ich gar nicht existieren. Wer er auch immer die Welt von oben betrachtet – und es kann sich ja nur um Gott handeln – er sieht mich gar nicht. Ich werde sogar von Gott ignoriert. Nicht mal er verfolgt mich. Und auch sonst niemand! Es ist einfach nur beängstigend.

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